Frage: "Die Lösung des Konfliktes wäre, so wie ich es bis jetzt verstanden habe, die Schuld für die Enttäuschung nicht beim Partner und in mangelnder Liebe zu suchen, sondern bei sich selbst und dementsprechend die Gründe dafür zu erforschen?" 

    BeiYin: "So ist es. All das wird durchlebt. Es wird gefühlt, es wird empfunden. -  Was wird wahrgenommen? Was ist Liebe? Was ist es wirklich?
    'Liebe' ist eine Reaktionskette des individuellen Systems eines Menschen auf den verschiedenen Ebenen und die Identifikation damit. Reaktionen wie andere auch, so wie Aggression, Freude, Trauer usw. Auf der Körperebene wird Adrenalin ins Blut ausgeschüttet und damit die Körperfunktionen stimuliert. Auf der Mental- und der Gefühlsebene wirken sich die Reaktionen ebenfalls anregend aus, sie bringen eine Kettenreaktion von Phantasien und Gefühlswellen hervor. Sind die Reaktionen spontan und überwältigend schon bei der ersten Begegnung, wird es 'Liebe auf den ersten Blick' genannt. Das Individuum läßt sich gerne davon absorbieren. Die in diesem Zusammenhang auf den verschiedenen Ebenen auftretenden Reaktionen werden als äußerst angenehm empfunden, denn sie steigern das Lebensgefühl. Das Persönlichkeitsgefühl wird stark überhöht, - schwebt bis in den '7. Himmel'.
    Das Individuum ist mit seinen Reaktionen identifiziert und befindet sich in der Regel in Abhängigkeit, sowohl zum Reaktionen auslösenden Partner, als auch zu den eigenen Reaktionen. Um das Wohlgefühl zu halten, bedarf es ununterbrochener Stimulans. Die Beteiligten verlangen deshalb nach der möglichst ständigen Anwesenheit des Partners. Bei Abwesenheit tritt starke Sehnsucht auf in Verbindung mit lustvollen Phantasien. Von der Persönlichkeit werden alle auftretenden Reaktionen in diesem Zusammenhang als 'Liebe' empfunden. Dieser Begriff ist zu einem übermächtigen Symbol menschlicher Sehnsucht geworden und so vollgepackt mit wollüstigen, romantischen, idealistischen, mystischen und religiösen Vorstellungen, daß eine Sichtung und Klärung dringend nötig erscheint. Was ganz gewiß nicht heißt, diesen Begriff auf Körper- reaktionen zu reduzieren.
    Was ich bis jetzt gesagt habe über Liebe, ist recht unromantisch ausgedrückt und es ist verständlich, daß meine Sachlichkeit Widerstand und starke emotionelle Reaktionen auslöst. Warum? Weil alles, was im Zusammenhang mit Liebe erlebt wurde, das Ichgefühl gefördert hat und auch dann, wenn die Betreffenden eventuell dabei zutiefst gelitten haben. Sie haben erlebt, also gelebt und dies war intensiver, als es ohne Liebe gewesen wäre. Dieses Erleben und die Hoffnung darauf, daß es sich wiederholt und dann anhält, soll möglichst von niemandem beeinträchtigt werden.
    Jetzt noch etwas über eine andere Dimension der Liebe. - Es erscheint übrigens bedeutungsvoll, daß die Menschen nur ein Wort haben für etwas, was so unterschiedliche Ebenen umfaßt. Die Eskimos z. B. haben etwa zweihundert verschiedene Worte für das, wofür wir gerade zwei oder drei haben, in dem Falle 'Schnee'. Aber die Eskimos leben ihr ganzen Leben im Schnee und ihr Alltag und ihre gesamte Existenz werden davon bestimmt. Während beim Mitteleuropäer Schnee mehr eine Randerscheinung ist, an der sich Kinder und Sonntagsskifahrer erfreuen, dieser im Alltagsleben jedoch eher eine Belästigung darstellt... Wie viele Worte haben wir für Liebe'?...! 
    Über die eingeengte Ebene der Persönlichkeit hinaus ist LIEBE ein Seinzustand, der sich nicht durch Reaktionen ausdrückt. Auf der realisierten Seins-Ebene besteht keine Trennung, weder zum Gegenüber noch zu sich selbst. Es ist Einssein als Zustand. Es ist permanente, unkonditionierte, sich verströmende LIEBE. (Diese Aussage an sich hat keinen anwendbaren Nutzwert, jedoch der Vollständigkeit halber sehe ich mich veranlaßt, dieses zu erwähnen. Denn entweder ist diese LIEBE im täglichen Leben realisiert, dann braucht sie keine Erklärung oder sie ist es nicht, dann verhelfen auch die einleuchtendsten Beschreibungen mit Sicherheit nicht dazu. Im Gegenteil, zu einem Glaubenskonzept geworden, verhindern sie die Verwirklichung...) 
    Diese unkonditionierte LIEBE kann in außergewöhnlichen 'Gipfelmomenten' auch von Menschen erfahren werden, die sonst in ihrem täglichen Leben nicht dazu in der Lage sind, denn von Menschen dieses Planeten wird LIEBE in den seltensten Fällen gelebt und schon gar nicht permanent, verlangt es doch die Realisation einer Erfahrens- bzw. Seinsebene, die über die Persönlichkeit und die Welt der Vorstellungen hinausgeht. 
    Diese latente Möglichkeit, die in jedem menschlichen Wesen vorhanden ist, zu realisieren, ist der unbewußte Drang aller Individuen. Jedoch aufgrund ihrer eingeschränkten Lebenssicht suchen die Menschen die Erfüllung dieses Dranges in der Außenwelt, im Gegenüber des anderen Geschlechtes oder, wenn die Persönlichkeitsstruktur entsprechend geformt ist, auch im eigenen Geschlecht. Diese Illusion schafft ein Spiel, in welchem sich die Leidenschaften ausleben und entsprechend viel Leiden entsteht. 'Zwei Mühlsteine, die sich gegenseitig abschleifen...'
    LIEBE ist der unbewußte Drang des Individuums zur Ganzheit. Es drückt sich in dem drängenden Verlangen aus, mit dem Partner EINS sein zu wollen. Die Illusion besteht darin, zu glauben, daß der Andere dazu unumgänglich nötig sei, wiederum ein Vorgang der Projektion, welcher Abhängigkeit schafft. In Wirklichkeit ist es der Drang, mit sich selbst EINS zu sein. 
    Es dürfte im Laufe unserer Gespräche deutlich geworden sein, daß das wesentliche Merkmal der materialistischen Sehweise der Menschen darin besteht, daß sie ihre Erfüllung im Außen suchen, seien dies nun Dinge oder Personen. Diese Haltung führt zwangsläufig zu den daraus resultierenden Enttäuschungen, mit Frustration und Leid im Gefolde. Das Leben oder die Wachstumskraft im Menschen wirkt beständig und mit bestmöglicher Effektivität, damit die Individuen zu sich selbst finden. Die Menschen können ihr Spiel bzw. ihre Illusion in der Regel nur erkennen, wenn sie einen langen Leidensweg durchlaufen haben. Wer ist für einen derartigen Prozeß besser geeignet als ein Partner, dem man sich geöffnet hat, dem man vertraut, der einen bereits in die höchsten Höhen gehoben hat, mit der Hoffnung, daß es immer so weiter geht? Und mit dem dann in der Folge die Enttäuschungen gelebt werden...
    Dieser Lernprozeß könnte kreativ sein und weniger schmerzhaft, wenn die Beteiligten wüßten, was es damit auf sich hat. Sie könnten zusammen das realisieren, was sie sich ersehnen und sie könnten bereits auf dem Wege dahin ein Glücklichsein erleben, welches ohne Abhängigkeit vom andern und doch ein Gemeinsames ist."

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