Frage:
"Der Streß im täglichen Leben nimmt überall ständig
zu, ebenso die Probleme. Mich würde interessieren, warum Spannungen
entstehen und ob das einen kreativen Sinn hat?"
BeiYin: "Spannung ist
akkumulierte Energie. Ein gespannter Bogen trägt Energie in sich.
Diese ist latent vorhanden und macht in diesem Fall aus einem Stück
Holz ein nützliches Gerät bzw. eine Waffe. Indem weitere Spannung
bis zum Höchstmaß hinzu gefügt wird, kann ein Pfeil abgeschossen
werden. Der Aufbau der Spannung ist ein Prozeß, der mit dem Loslassen
endet, so daß der Pfeil die Sehne verläßt und auf das
Ziel zufliegt. Damit tritt wieder ein Zustand der relativen Entspannung
ein, so wie bei Beginn des Vorganges.
Die Menschen befinden sich
in einem Zustand der permanenten Überspanntheit, was mit ihrer Zielsetzung
zu tun hat, mit ihrer Unfähigkeit loszulassen und mit dem mangelnden
Abstand zu sich selbst und zu ihren Zielen. Es gilt herauszufinden, welches
das wirkliche Ziel ist. Bevor dieses möglich ist, wird es nötig
sein, als erstes zu erkennen, daß die meisten Ziele angestrebt werden,
weil sie aus Tradition übernommen wurden oder von Zweckinteressierten
als erstrebenswert suggeriert werden, jedoch nicht den individuellen wirklichen
Lebensbedürfnissen entsprechen."
Frage: "Ich glaube
schon, daß ich weiß, weshalb Spannungen in meinem täglichen
Leben auftreten. Aber manchmal verspüre ich eine derart starke Wut,
daß ich mich selbst davor fürchte. Ich kann nicht erkennen,
woher diese unspezifischen Aggressionen kommen. Was kann ich tun, um die
Gründe herauszufinden und abzustellen?"
BeiYin: "Eine derartige
Wut ist die Akkumulation von Verspannungen über einen längeren
Zeitraum und auf verschiedenen Ebenen. Spannungen sind ebenfalls Bestandteil
der Struktur des kollektiven Bewußtseins, die Person hat Anteil daran,
die Spannung jedoch nicht verursacht.
Als unspezifisch wird eine
Reaktion empfunden, wenn deren Ursache im Dunklen liegt und die Zusammenhänge
mit der eigenen Struktur nicht erkennbar sind. Alle Reaktionen werden ausgelöst
durch einen Reiz, der das System trifft. Es kann dies ein geringfügiger
Anstoß sein, auch auf Umwegen, oder eine massive direkte Provokation.
Das gilt nicht nur für ausgelöste Aggressionen, sondern für
jede Art Reaktion und zwar auf allen Ebenen des Systems, also im Mental-,
Emotional- und dem physischen Körper. Da der Reagierende mit seiner
Reaktion meist identisch ist, nimmt er diese nicht wahr, sondern richtet
vorrangig seine Aufmerksamkeit nach außen auf den auslösenden,
anscheinend schuldigen Grund. In diesem findet er die Berechtigung und
Rechtfertigung für seine Reaktion und ebenso für die daraufhin
erfolgende Handlung.
Begnügt sich jedoch der
Reagierende damit, seine Reaktion wahrzunehmen, ohne Projektion, Beurteilung
und Rechtfertigung dessen, so begibt er sich in die Position eines beinahe
neutralen Beobachters. Ohne sich jedoch dem Geschehen zu entziehen, da
es sonst zu einer gefährlichen Spaltung kommt. Durch diese vom üblichen
Verhalten abweichende Haltung wird der Reagierende in die Lage versetzt,
die Ursache für sein Reagieren objektiv zu erkennen. Er wird wahrnehmen,
daß der Anstoß zwar von außen kommt, die Ursache jedoch
in seiner eigenen Persönlichkeitsstruktur liegt. Er wird nach und
nach die Zusammensetzung und den Ursprung seiner Strukturierung erkennen.
Dann ist er gleichfalls befähigt, die bewußte Entscheidung zu
treffen, daran festzuhalten oder diese Programmierung als nicht mehr für
ihn adäquat fallenzulassen.
Mit andern Worten: Ein Vorgang der Selbsterkenntnis
und der Wandlung."
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